Auf engem Raum - und doch weit auseinander...
Schon Johann Wolfgang Goethe hatte es erkannt, als er vor rund 200 Jahren schrieb: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen.
Dulden heißt beleidigen."
Und genau das wollten wir nicht!
Drei Orte, drei Schulen, Burg-Reuland in Belgien, Daleiden in Deutschland und Hosingen in Luxemburg; eigentlich, rein geographisch, nur einige Kilometer voneinander entfernt - und doch "meilenweit" auseinander. Alle 58 am Projekt teilnehmenden Kinder besuchen eine 6. Klasse in ihrem Land. In Burg-Reuland war das die 6. Klasse von Lehrer Clemenz Kaut, in Daleiden die 6. Klasse von Lehrerin Beate Bormann und in Hosingen war es meine Klasse. Doch die Kinder, die so viele gemeinsamen Interessen haben, kennen sich nicht und obwohl sie zum Teil die gleichen Sprachen sprechen, besuchen sie Schulen mit unterschiedlichen Lehrplänen, mit unterschiedlichen Ferienzeiten und mit unterschiedlichen Lernzielen.
Natürlich sind wir tolerant!
Das heißt aber nicht mehr und nicht weniger als dass wir die "anderen" in Ruhe lassen, dass wir uns nicht um sie kümmern, dass wir uns nicht mit ihnen befassen. Wir dulden sie als unsere Nachbarn - wir erdulden die Unterschiede.
Dabei wollten wir es nicht belassen.
Wir wollten den Schritt zur Anerkennung im Sinne Goethes machen: wir wollten auf unsere Nachbarn zugehen, sie besser kennenlernen, uns mit ihnen auseinander setzen, zusammen reden, zusammen spielen, zusammen lernen und, wenigstens für eine kurze Zeit, zusammen leben! In einem vereinigten Europa genügt es halt nicht mehr, sich nur in Toleranz zu üben! Doch neben dem gegenseitigen Sich-Kennenlernen und -Verstehen, sollten noch eine ganze Menge weiterer Fähigkeiten und Kenntnisse bei den Kindern gefördert werden: So zum Beispiel die Flexibilität, das Aufeinanderzugehen, die Teamarbeit und die Selbständigkeit. Dies alles sind sogenannte Schlüsselkompetenzen, welche unsere Gesellschaft bei ihren Mitgliedern voraussetzt, und die über die reine Wissensvermittlung in der Schule hinausgehen. Neben den Kindern wurden aber die Lehrerinnen und Lehrer ebenfalls nicht vergessen. Auch hier wurde auf grenzüberschreitende und fächerübergreifende Zusammenarbeit gezielt und gegenseitiges Kennenlernen und Verständnis gefördert.
Dies waren also die - zugegeben - hohen Ansprüche, als es ans Planen eines in dieser Form bis dahin noch nicht dagewesenen Projektes ging. Mit der finanziellen Unterstützung von "Islek ohne Grenzen Ewiv" und der teilnehmenden Gemeinden sollte in enger Zusammenarbeit mit der von mir geleiteten Kindertheatergruppe "Den Holzwuerm - Park Housen" ein Treffen eben dieser drei 6. Klassen organisiert werden.
Als Ort der Zusammenkunft wurde Munshausen in Luxemburg ausgewählt. Seit der Inbetriebnahme des "Sammeshaff" neben der gîte d'étape "St. Hubert" und der "Robbesscheier" selbst, bieten die Infrastrukturen die hier geschaffen wurden, beste Voraussetzungen um projektorientiertes Arbeiten in Ateliers zu gewährleisten. Daneben konnte auch auf das neue "Centre culturel" zurückgegriffen werden, so dass jedem Workshopleader ein eigener Raum mit hervorragenden Arbeitsbedingungen zur Verfügung gestellt werden konnte. Das ganze Dorf sollte somit drei Tage lang fest in den Händen der 58 Kinder sein.
Doch was tun mit 58 Kindern? Und das auch noch drei Tage lang?
Unsere Kinder der "Milleniums-Generation" sind augenblicklich dabei zu lernen, dass sie sich nicht mehr aufraffen müssen, um ein Abenteuer zu erleben! Sie holen sich ihre Abenteuer mit einem Knopfdruck ins Kinderzimmer. Sei es Fernsehen, Gameboy- oder Konsolenspiele oder der Komputer. Nicht mehr die nahe Umwelt wird direkt von den Kindern erfahren, sondern gleich und unvorbereitet die ganze Welt, ja das ganze Universum, aber leider nur über den indirekten Weg eines Mediums. Dies bringt nicht nur das Erfahren der Welt aus zweiter Hand, sondern auch eine Vereinsamung und Isolation des Kindes zu Hause mit sich. Diese Entwicklung können und wollen wir in den Schulen nicht zurückdrehen, aber wir müssen sie zur Kenntnis nehmen - nicht verdrängen - und versuchen für unsere Schüler einen Ausgleich zu schaffen.
Theater - und vor allem Kindertheater - läßt sich nicht auf Knopfdruck einschalten, es läßt sich nicht ohne weiteres vervielfältigen und schon gar nicht sekundenschnell wieder abschalten, wenn die Lust an ihm zu verlieren droht! Theater lebt in der Sekunde, in der der Schauspieler seinem Zuschauer auf der Bühne gegenübertritt, kann ohne diese Wechselwirkung Schauspieler-Zuschauer nicht existieren und ist im Augenblick seiner Aufführung schon vergangen. Hierbei werden Erfahrungen aus erster Hand gemacht, die dem Kind eine angemessene Form des Lernens und der Lebensbewältigung ermöglichen.
Sehr schnell hatten wir uns also für kreative Aktivitäten entschieden, die in dieser Form im normalen Stundenplan der Schulen nicht vorkommen, die aber trotzdem sehr lernintensiv sind. Also wurden den Kindern folgende Wokshops im Vorfelde angeboten:
Atelier 1. Zirkustechniken
Der von Nadine Zangarini geleitete Workshop befasste sich mit den Grundtechniken des Jonglierens, der Akrobatik und der Equilibration. Die Kinder lernten zuerst mit Tüchern, Bällen, Ringen und Keulen zu jonglieren, den Teller und den Diabolo zu benutzen, mit dem Einrad zu fahren... Dieser Workshop richtete sich an die Sportlichsten!
Atelier 2. Moderne Tanztechniken
Im Mittelpunkt dieses von Eddy Vigne geleiteten Workshops stand die Einführung in die Techniken des Breakdance. Die Teilnehmer sollten ihre Lieblingsmusik auf CD mitbringen, zu der dann Choreografien ausgearbeitet wurden. Für alle musik- und tanzbegeisterten Kinder!
Atelier 3. Pantomime-Expression corporelle
Martine Conzemius zeigte wie man auf der Bühne Gefühle und Gemütszustände durch Mimik und Körpersprache ausdrücken kann. Von den Kindern hing es ab, ob die Sprache mit zu Hilfe genommen, oder nur pantomimisch gearbeitet werden sollte. Für alle zukünftigen Schauspieler und Selbstdarsteller!
Atelier 4. Musik der Stille
Der französische Musikclown Jean Ribouillaut sollte in seinem Musikworkshop zeigen, wie Perkussionsinstrumente im Zusammenspiel mit anderen und in der Begleitung einer Vorstellung einzusetzen sind Für musikinteressierte Kinder!
Atelier 5. Moderation, Organisation, Dokumentation
Der Workshop von Roland Meyer befasste sich mit der Koordination der einzelnen Ateliers. Eine Moderation für die Vorführung wurde als roter Faden ausgearbeitet und eingeprobt, die Vorbereitungen für den Auftritt organisiert, anhand des Komputers wurde die gesamte Arbeit der Workshops dokumentiert. (http://www.gms.lu/~holzwuerm) Für Kinder mit vielen Talenten und guten Ideen!
Unter den fünf Möglichkeiten konnten die Kinder frei wählen und sich nach ihren eigenen Interessen entscheiden. Durch die gute Zusammenarbeit mit dem Verantwortlichen der "Robbesscheier" Herrn Nobert Thelen in Munshausen war es schließlich auch möglich, die Kinder, die in Workshops zusammen waren, auch in den jeweiligen Zimmern zusammen zu bringen.
Als Abschluss des Projektes waren die Eltern ins neue "Centre culturel" nach Munzhausen eingeladen, um zu bestaunen, was die Kinder in den drei Tagen der intensiven Zusammenarbeit gelernt haben. Der neue Bau konnte die vielen Zuschauer fasst nicht aufnehmen und die Begeisterung bei den Anwesenden war groß. Besonderen Applaus erntete Lehrer Kaut aus Burg-Reuland, weil er für den kurzfristig erkrankten Workshopleader Jean Ribouillaut spontan eingesprungen war.
Am Ende eines solchen Projektes stellt sich natürlich immer die Frage nach dem Erreichen der Ziele. Ein Hauptziel war die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Schülern und Lehrern. In dieser Hinsicht hat das Projekt seine Ziele zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten erreicht, mehr noch, unter den Kindern sind Freundschaften entstanden, die wahrscheinlich über die "Munshausener Tage" hinaus bestand haben werden. Wie die Abschlussfeier zeigte, sind auch die genau definierten Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten im musikalischen, theatralen und akrobatischen Bereich bestens zur Geltung gekommen. Auf dem Gebiet der Sprache war das Deutsche die allgemeine Verständigungssprache unter den Kindern. Von Seiten der Eltern sind vornehmlich positive Äußerungen zu vernehmen, viele Kinder wünschten sich, dass der Aufenthalt noch etwas länger gedauert hätte.
Somit scheinen die Voraussetzungen also günstig zu sein, um das Projekt in zwei Jahren noch einmal zu wiederholen, diesmal vielleicht in Belgien oder Deutschland. Schließlich fängt das Vereinigte Europa bei den Kindern an, denn sie sollen es ja sein, die es einmal konkret leben und erleben werden!
Roland Meyer