Charles Berg
Nie habe ich den Text verstanden. Es war jedes mal ähnlich. Mittlerweile
habe ich mit dem Kannertheateratelier des Ex-ISERP, neun Kinderstücke auf die
Bühne gebracht. Nie war mir von Anfang an klar, was der doch scheinbar
unkomplizierte Text bedeuten sollte. Was ich meinte, begriffen zu haben, erwies
sich später oft als nicht haltbar. So war das, was schlussendlich auf die Bühne
kam, weit entfernt von dem, was ich mir ausgemalt hatte.
Dabei glaube ich, dass ich nicht einmal ein schlechter oder ungeübter Leser
bin. Aber bei der Produktion eines Kinderstücks kommen Aspekte hinzu, die weit
über die individuelle Leseerfahrung hinausgehen. Kindertheaterproduktion zu
ermöglichen, bedeutet, Erfahrungsräume zu schaffen, in denen möglichst viele,
Erwachsene und Kinder, an einer gesteigerten Form der Sinnkonstitution
teilhaben können. Deshalb will ich versuchen ohne große theoretische
Absicherung, die für mich im Rückblick auf fast zehn Jahre Theaterarbeit
wichtigen Erfahrungselemente anzusprechen und zu erläutern: Prozesshaftigkeit,
A-Konzeptualität, Sozialcharakter, Publikumsbezug.
Kindertheaterproduktion ist ein Prozess. Unsere Inszenierungsarbeit
verstand sich nie als Produktdesign, die gewissermaßen die fertige Aufführung
im Entwurf vorlegt, der „nur“ noch auszuführen sei. Vielmehr verstanden wir uns
meistens als Katalysatoren. Wir wollen Dinge in Gang bringen, Energien
freisetzen und bündeln. Wir boten Kristallisationspunkte an, in dem sich in
einem offenen, aber konsequenten Fortgang eine Form, die manchmal überraschend
sein konnte, herausbildete. Korollar unsere Arbeitsweise war einmal das
In-Kauf-nehmen von Ungewissheit. Es galt zur relativen Unlesbarkeit des Texts
zu stehen. Lösungen lagen nicht im voraus fest. Langsamkeit und Wiederholung
waren die wichtigsten Schlüssel. Immer-wieder-Probieren lässt langsam die
Geschichte entstehen, die später auf der Bühne erscheint.
Brauchbare Ausgangspunkte sind selten konzeptuell. Allzu leicht
rutscht man dann ab in den Sumpf der moralinsauren Volksweisheiten. Wer ist
denn schon gegen Integration, Fairness, Gerechtigkeit? Wichtiger sind formale
Strukturelemente: Wer führt eine Szene? Wer leistet Widerstand? Wer kommt von
links, wer kommt von rechts? Was ist unter-, was oberhalb dem Spielraum? Wem ist
es warm, wem kalt? Wer sucht Kontakt, wer findet ihn? Wer stützt, wer stößt,
wer schiebt, wer zieht? Hinzu kommen die Anmutungsqualitäten des Texts, der
Handlung, des Raumes. Es sind Stellen, an denen man sich stößt, hängen bleibt,
sich verspricht, immer denselben dummen Gedanken hat. Sie liefern, wenn man sie
geduldig abarbeitet, die Bildhaftigkeit, den Spielrhythmus, die Spieleinfälle.
Sie bilden auch die Masse, aus der sich die ganzheitlich-sinnliche Gestalt
ergibt, die nichts von einem bloßen Gedankengespinst hat.
Der Prozess des Probierens, des Erspielens, des Erhandelns, aus dem sich
der momentane, kontextbezogene Sinn des Stücks ergibt, ist in der Regel nie ein
individueller, sondern immer ein sozialer Prozess. Ich muss mich
einlassen auf die Lebenserfahrung anderer. Als wir die „Reise durch das
Schweigen“ probierten, haben wir zum Beispiel lange über Hochzeitsbilder,
sowohl eigene als die der Eltern, geredet, die Haltungen nachgestellt, uns das
Vorher und Nachher ausgemalt. Gesten aber werden nicht gestellt. Der Spieler
soll nicht so aussehen, als wenn er verliebt wäre. Er soll nicht so tun als ob.
Er soll das Verliebtsein denken, fühlen, so wie die Gruppe es fühlt und denkt.
Er soll sich auf einen gemeinsamen, immer wieder körperlich, emotional, sprachlich
abzusichernden Sinnraum beziehen können, der sich in der Theaterarbeit
herausgebildet hat.
Die Aufführung schafft nicht die fertige Geschichte. Sie bleibt auf das Publikum
bezogen. Der Sinn ist nicht vorgegeben, er entsteht in der Interaktion.
Aufgabe der Inszenierung ist es nicht, Bedeutungen zu vermitteln, sondern
Leerstellen und Lücken zu schaffen, die vom inneren Theater des Zuschauers
gefüllt werden. Nicht auf fremde, sondern auf eigene Bilder kommt es an. Nicht
das auf der Bühne gestellte Spiel bewegt, sondern das im Innern erahnte oder
vorgestellte. Die Wirkung des Spiels ist dabei momentan, ephemer, vergänglich,
vielleicht morgen schon nicht mehr wahr.
Die vier erwähnten Aspekte machen klar, dass Kindertheater schwerlich das
Decorum einer schlechte Schule sein kann. Es kann aber in seiner
ganzheitlichen, sozialen, dialogisch auf den Anderen bezogenen
Prozesshaftigkeit Metonymie für sinnvolles und authentisches Lernen sein.
Deshalb sollte man dem schulischen Experiment mit dem darstellenden Spiel in
allen Formen auch in Zukunft einen angemessenen Platz einräumen.